Inter­net Explo­rer — Ein Nekrolog

1Krieg! Brow­ser­krieg!

Als Anfang der Neun­zi­ger Jah­re das Inter­net zuneh­mend Bedeu­tung gewann, ent­wi­ckel­te eine jun­ge Fir­ma eine Soft­ware, wel­che es ermög­lich­te, struk­tu­rier­te Inhal­te von einem ent­fern­ten Ser­ver abzu­ru­fen und dar­zu­stel­len. Die Fir­ma hiess Net­scape und die Soft­ware Net­scape Navi­ga­tor. Es war der ers­te Web­brow­ser2, der sich rasant ver­brei­te­te und schon bald auf jedem inter­net­taug­li­chen Com­pu­ter lief. In den Anfän­gen beherrsch­te Net­scape Navi­ga­tor nur die rudi­men­tä­re Dar­stel­lung von Text und Bild. Aber das grenz­te schon fast an ein Wun­der! Die Soft­ware-Fir­ma Micro­soft war in kür­zes­ter Zeit zu einem Rie­sen­kon­zern gewach­sen und reagier­te dem­entspre­chend behä­big auf die Zei­chen der Zeit. Es dau­er­te Jah­re, bis die Chef­eta­ge von Micro­soft das gewal­ti­ge Poten­ti­al des Inter­nets erkann­te. Dann aber begrif­fen die Ent­schei­der von Micro­soft, dass der Schlüs­sel zur Herr­schaft über das jun­ge Inter­net besitzt, wer die Tech­no­lo­gien und Stan­dards die­ses Medi­ums kon­trol­liert. Mir­co­soft star­te­te die Ent­wick­lung eines eige­nen Web­brow­sers und gab ihm den Namen Inter­net Explo­rer. Damit begann, was als Brow­ser­krieg3 in die Geschich­te ein­ge­hen soll­te. Net­scape, wel­che den Brow­ser-Markt jah­re­lang domi­nier­te, wur­de vom Gigan­ten Micro­soft in einem unglei­chen Kampf nie­der­ge­run­gen. Der Net­scape Navi­ga­tor ver­sank lang­sam in der Bedeu­tungs­lo­sig­keit. Die Ent­wick­ler­fir­ma Net­scape wur­de von AOL4 geschluckt, wel­che spä­ter sel­ber im sich kon­so­li­die­ren­den IT-Markt vom Medi­en­kon­zern Time War­ner über­nom­men wur­de. Der Inter­net Explo­rer ging vor­erst als unan­ge­foch­te­ner Sie­ger aus dem Brow­ser­krieg hervor.

Die Geis­ter, die ich rief…

Der Inter­net Explo­rer ver­dank­te sei­nen Sie­ges­zug vor­est nicht sei­nen Qua­li­tä­ten, son­dern Micro­softs Stra­te­gie, den Brow­ser mit dem haus­ei­ge­nen Betrieb­sys­tem Win­dows zu bün­deln. Der Brow­ser des Mono­po­lis­ten und Markt­füh­rers für Betrieb­sys­te­me lag nun als Kern­kom­po­nen­te von Win­dows jedem neu gekauf­ten Com­pu­ter bei. Net­scape Navi­ga­tor hin­ge­gen hät­te nach­in­stal­liert wer­den müs­sen. Die Instal­la­ti­on von Soft­ware war damals — ver­ständ­li­cher­wei­se — vie­len Com­pu­ter­nut­zern ein Gräu­el. Man liess lie­ber die Fin­ger davon und nutz­te, was vor­in­stal­liert war. So nis­te­te sich der IE auf den Heim-PCs ein. Die Bün­de­lung des IE mit dem Betriebs­sys­tem Win­dows wur­de jedoch nicht nur im Mar­ke­ting und der Logis­tik, son­dern auch in der Soft­ware-Ent­wick­lung sel­ber voll­zo­gen. Der Inter­net Explo­rer wur­de nicht als allein­ste­hen­des Pro­gramm, son­dern als Kom­po­nen­te des Betriebs­sys­tems ent­wor­fen. Die Wur­zeln die­ses Brow­sers reich­ten bis tief in den Kern des Betriebs­sys­tems Win­dows. Die­ses Kon­zept galt damals als modern, wur­de aber schon bald zum Sicher­heits­pro­blem schlecht­hin. Denn soll­te es einem Angrei­fer gelin­gen, eine Schwach­stel­le im Brow­ser zu fin­den, wäre eine feind­li­che Über­nah­me des Sys­tems, sprich des Com­pu­ters, nur noch eine Fra­ge der Zeit. In der Fol­ge muss­te Micro­soft Hun­der­te von Sicher­heits­lö­chern im Inter­net Explo­rer stop­fen, wel­che ohne Zutun des Benut­zers das Ein­schleu­sen von aus­führ­ba­rem Pro­gramm­code ermög­lich­ten. Meist genüg­te schon das Ansur­fen einer ver­meint­lich harm­lo­sen Web­sei­te, um sich Com­pu­ter­vi­ren, die Pest des digi­ta­len Zeit­al­ters, an Bord zu holen. Micro­soft ent­wi­ckel­te neue Ver­sio­nen des Inter­net Explo­rer und ver­such­te dem Pro­blem Herr zu wer­den, ohne aber die fata­le Ver­zah­nung mit dem Betriebs­sys­tem auf­zu­lö­sen. Das Pro­blem wur­de trotz zahl­rei­cher Nach­bes­se­run­gen nie rich­tig gelöst, so dass noch im Janu­ar 2010 eine gra­vie­ren­de Sicher­heits­lü­cke in den Ver­sio­nen 6, 7 und 8 des Inter­net Explo­rer aktiv aus­ge­nutzt5 wur­de und wird. Soft­ware ist gene­rell nicht gefeit vor Sicher­heits­lü­cken. In den meis­ten Fäl­len kön­nen die­se beho­ben wer­den. Die Geschich­te des IE lässt jedoch nur einen Schluss zu: Die­se Soft­ware ist nicht mehr zu ret­ten. Sie war, ist und bleibt ein Sicher­heits­ri­si­ko für jeden Nut­zer des Betrieb­sys­tems Windows.

Der IE und die Standards

Auf dem Höhe­punkt des Brow­ser­kriegs gelang es Micro­soft qua­li­ta­ti­ve Akzen­te zu set­zen, indem sie moder­ne Web­stan­dards in die Ent­wick­lung des IE ein­flies­sen lies­sen. So wur­de auch der tech­no­lo­gi­sche Vor­sprung auf den Kon­kur­ren­ten Net­scape grös­ser. Kaum aber war die Schlacht gewon­nen, schlief der Rie­se Micro­soft und die Ent­wick­lung des Inter­net Explo­rers ein. Nach der Fer­tig­stel­lung der Ver­si­on 6, wur­de im Jah­re 2001 das Ent­wick­ler­team ent­las­sen. Damit war gemäss den Stra­te­gen von Mir­co­soft auch die Ent­wick­lung des Inter­nets abge­schlos­sen. Dies war eine gewal­ti­ge Fehl­ein­schät­zung, denn das eigen­dy­na­mi­sche Web such­te neue Aus­drucks­mög­lich­kei­ten und neue  Wege der Ver­net­zung und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Zu die­sem Zweck ent­wi­ckel­te das W3C6, ein Ver­bund von Indus­trie­grös­sen, die vor­han­de­nen Stan­dards wei­ter. Doch Micro­soft igno­rier­te die­se Bestre­bun­gen und ver­zich­te­te bewusst, Neue­run­gen in den Inter­net Explo­rer 6 ein­zu­bau­en. Da gab es zwar zwei klei­ne Kon­kur­ren­ten, wel­che einen eige­nen Brow­ser ent­wi­ckel­ten. Micro­soft aber nahm die­se nicht ernst und trieb den Aus­bau des Soft­ware-Mono­pols vor­an. Zum einen arbei­te­te die Nor­we­gi­sche Fir­ma Ope­ra7 am gleich­na­mi­gen Brow­ser, wel­cher die neu­es­ten Stan­dards umsetz­te und mit sei­nem Aus­se­hen und mit sei­ner Schlank­heit Web­de­si­gner und Inter­net-Ent­wick­ler zu begeis­tern ver­moch­te. Der Sprung in den Mas­sen­markt blieb Ope­ra aus ähn­li­chen Grün­den, wel­che den Unter­gang des Net­scape Navi­ga­tor besie­gel­ten, ver­wehrt. Gleich­zei­tig ver­such­te eine Grup­pe von frei­en Ent­wick­lern, aus dem Pro­gramm-Quell­text des tot geglaub­ten Net­scape Navi­ga­tor einem moder­nen Brow­ser zu machen. Sie nann­ten ihre Ent­wick­lung Phoenix.

Der Phö­nix aus der Asche

Phoe­nix soll­te ein inno­va­ti­ver, schlan­ker und schnel­ler Web­brow­ser wer­den, der sich an die neu­es­ten Stan­dards hält und Anwen­der­freund­lich­keit und Erwei­ter­bar­keit bie­tet. Die­sem Ziel näher­ten sie sich an. Nur muss­te der Name auf­grund mar­ken­recht­li­cher Pro­ble­me zwei Mal gewech­selt wer­den. Aus Phoe­nix wur­de Fire­bird, aus Fire­bird schliess­lich Fire­fox. Fire­fox gelang es, eine schnell wach­sen­de Zahl von Anwen­dern zu errei­chen. Damit wur­de klar, dass Micro­soft damals bloss eine Schlacht, nicht den Krieg gewon­nen hat­te. Die zwei­te Run­de des Brow­ser­krie­ges war eröff­net! Micro­soft reagier­te und ver­such­te, mit Adre­na­lin­sprit­zen und Strom­stös­sen den bewusst­lo­sen Inter­net Explo­rer wie­der­zu­be­le­ben. Die Ent­wick­lung wur­de wie­der auf­ge­nom­men. Mit der Ver­öf­fent­li­chung des Inter­net Explo­rer 7 im Jah­re 2006 schei­ter­te der ers­te Ver­such sich gegen Trend zu stem­men. Micro­soft hat­te die tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung über Jah­re ver­schla­fen. Ganz abge­se­hen von Sicher­heits­be­den­ken waren aber weder Anwen­der noch Ent­wick­ler bereit, auf die fas­zi­nie­ren­den Mög­lich­kei­ten des kom­men­den Web 2.08 zu ver­zich­ten. Wäh­rend sich Pri­vat­an­wen­der mas­sen­haft vom Inter­net Explo­rer abwand­ten, hielt sich der neun­jäh­ri­ge Inter­net Explo­rer 6, ein Dino­sau­ri­er der Soft­ware­ge­schich­te, bis heu­te hart­nä­ckig im Fir­men­um­feld. Ange­sichts fort­ge­set­zer Sicher­heits­pro­ble­me fin­det auch dort ein Umden­ken statt.

In den letz­ten Atemzügen

Der Inter­net Explo­rer liegt im Ster­ben. Und das ist gut so. Fast ein gan­zes Jahr­zehnt behin­der­te er die Evo­lu­ti­on des Inter­nets. Er war eine Ket­te an den Füs­sen und Hän­den von Web­de­si­gnern und Inter­net-Ent­wick­lern, die Tau­sen­de von Über­stun­den für die Anpas­sung, sprich Beu­gung von Stan­dards an einen kaput­ten Brow­ser auf­ge­wen­det haben. Er war die Höl­le für Com­pu­ter­nut­zer, denen er Viren, Tro­ja­ner und Wür­mer unge­fragt instal­lier­te. Er war eine Qual für alle Frei­wil­li­gen, wel­che die­se Saue­rei bei Bekann­ten und Ver­wand­ten in stun­den­lan­ger, meist unbe­zahl­ter Arbeit wie­der auf­räu­men muss­ten. Wenig Gutes kann man über ihn sagen. Nur punk­tu­el­le Ver­wen­dungs­zwe­cke hat er noch: Ers­tens lässt sich damit ein ande­rer Brow­ser instal­lie­ren. Davon gibt es heu­te eine Viel­zahl, die alle mehr zu bie­ten haben haben als der ster­ben­de IE. Fin­den Sie den Brow­ser ihrer Wahl:


99

710

117

1011

Fer­ner soll­ten Sie sich jedoch davor hüten, den Inter­net Explo­rer aus ihrem Sys­tem zu ent­fer­nen. Dies könn­te Win­dows unbrauch­bar machen. Las­sen Sie ihn ein­fach in Frie­den ruhen in sei­nem Grab. Als Unto­ter wird er zuwei­len ein Win­dows-Update vor­neh­men, um danach in die Gruft zurück­zu­keh­ren. Inter­net Explo­rer, wir wei­nen Dir kei­ne Trä­ne nach. R.I.P12.

[d.z]

Wei­ter­füh­ren­de Links:
IE bleibt Sor­gen­kind13
Neue Lücke im Inter­net Explo­rer14

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