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Das zwei­te Wun­der von Bern

Es ist kaum zu glauben. Pünktlich zu Weihnachten meldet das BAG (Bundesamt für Gesundheit) keine Neuinfektionen in der Schweiz. Die Schweiz ist somit das erste europäische Land, welches als vollständig corona-befreit gilt. Niemand wollte oder konnte kommentieren, wie es zu diesem Wunder gekommen ist. Sämtliche Mitarbeiter des Bundesamtes waren nicht zu erreichen. Ein Insider verriet, dass sich die meisten nun eine wohlverdiente Auszeit auf den Skipisten des Wallis gönnen.

Aus diesem erfreulichen Anlass lädt die Schweiz nun die ganze Welt ein, mit ihr zu feiern. Auch Flieger aus dem Pandemie geschüttelten Vereinigten Königreich landen wieder auf Schweizer Flughäfen. Die Befürchtung, dass mit den internationalen Besuchern das Virus wieder in die Schweiz importiert werde, teilt Maul- und Klauenseuchen-Experte Hörbi Figglistaler nicht. Es sei mittlerweile erwiesen, dass sich das Virus in der Schweizer Luft, insbesondere der Bergluft, nicht entfalten könne, so Figglistaler. Er bezeichnet die Schweiz sogar als «Virenfilter» für die ganze Welt.

Feiernde Menschen liegen sich auf den Strassen in den Armen. Der schwyzerische Jodlerchor «Ischglich» gibt einen spontanen Gig im Sääli des Leuen von Nottiswil. Das Schweizer Fernsehen übeträgt live. Die Kirchen des Landes füllen sich mit seelisch ausgehungerten Menschen. In den Pubs und Bars prustet die 24-Stunden-Spassgesellschaft wieder fröhlich Bier in die Runde. Zuschauer aus der ganzen Schweiz besuchen spontan einen Match des FC Aarau im nostalgisch anmutenden Brügglifeld. Der FC Aarau bedankt sich bei 15‘742 Zuschauer. Ein Rekord!

Noch kämpfen aber die Spitäler mit zahlreichen Grippe-Patienten. Doch die Ärzte sind optimistisch, dass bei der momentanen Sterberate bald wieder genügend Betten für die Ski-Unfallopfer frei werden. „Wir werden unseren Saison-Auftrag erfüllen können.“, sagt Rita Dumbel, Chef-Lobbyistin der kranken Kassen. Sie betont auch, dass gerade Ski-Unfälle wichtig für die Gesundheit seien. Ueli Mauer, Bundesrat für finanzielle Werte, sieht sich in seiner kritischen Haltung bestätigt. Die Güterabwägung sei richtig gewesen, er könne jetzt immerhin Christoph Blochers Rente bezahlen, so ein sichtlich zufriedener Maurer.

In der Schweiz pulsiert das Leben wieder. Der Dank gebührt vor allem unserem Krankenminister, Alain Berserc, der unermüdlich die Eigenverantwortung der EinwohnerInnen und der Kantone einforderte. Diese haben ihrerseits alles richtig unterlassen. Politologe Claude Courtchampagne spricht von einem veritablen Siegeszug des Föderalismus. „Die Strahlkraft des schweizerischen Erfolgsmodelles sei nie grösser gewesen“, schliesst Courtchampagne. „Ende gut, alles gut“, titelt das Schweizer Hochglanz-Blatt «Block». Wir von der Redaktion «GAGA» können uns dem natürlich nur anschliessen und wünschen allen EinwohnerInnen dieses grossartigen Landes frohe und ausgelassene Festtage im Kreise der Grossfamilie. Prosit!




Das Coro­na­kel

Das drohende Corona-Debakel

Die epidemiologischen Zeichen stehen nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa auf Sturm. Doch die Reaktion der Schweiz auf eine sich abzeichnende zweite Welle ist verhalten und uneinheitlich. Der Bundesrat hält sich vornehm zurück und beobachtet, während die Kantone einen Flickenteppich von Massnahmen hervorbringen. In fast allen Kantonen gelten andere Vorschriften zur Eindämmung der Corona-Pandemie. In einem Punkt scheinen sich jedoch fast alle insofern einig zu sein, als sie einen wirtschaftlichen, sozialen und auch demokratischen Schaden durch allzu einschneidende Massnahmen vermeiden wollen. Die Zügel werden dementsprechend locker gelassen. So werden beispielweise geltende Abstandsregeln weder eingehalten, noch wird deren Missachtung sanktioniert.

Schweiz im Normalbetrieb

Die schweizerische Bevölkerung ihrerseits hat selbstständig auf beruflichen und sozialen Normalbetrieb umgestellt. Die wenigsten nehmen die Bedrohung durch das neue Corona-Virus noch ernst oder glauben weiter an den mehrfach widerlegten Grippe-Vergleich. Weiterhin verbreiten einige Kreise, die durch Corona verursachte Sterblichkeit unterscheide sich nicht von jener einer normalen Grippewelle. Dabei wird völlig ausser Acht gelassen, dass der Bund mittels Lockdown kräftig auf die Notbremse getreten ist und somit Schlimmeres verhindert hat. Momentan beklagt die Schweiz deshalb «nur» 1789 an Covid-19 Verstorbene. Im Vergleich dazu zählt man im Vereinigten Königreich zurzeit 42‘000 Tote. Im Verhältnis zum Vereinigten Königreich müssten wir in der Schweiz bei vergleichbarer Mortalitätsrate ca. 5250 Corona-Tote aufweisen. Es scheint, dass das schweizerische Gesundheitssystem und die Disziplin der Bevölkerung während des Lockdowns sich sehr günstig auf die Sterblichkeit durch Corona ausgewirkt hat.

Sonderfall-Mentalität

In solchen Situationen verfallen Schweizerinnen und Schweizer allzu leichtsinnig in das eingebrannte Sonderfall-Denken. Man hält es schlicht und einfach für unmöglich, dass hier in der Schweiz ähnlich negative Entwicklungen wie in Spanien, Frankreich, Belgien oder den Niederlanden eintreten. Schon meldet das Bundesamt für Gesundheit am Mittwoch, dem 7. Oktober 2020, 1071 Corona-Infektionen. Es zeichnet sich hier ein exponentieller Trend ab, eine veritable Explosion von Covid-19-Erkrankungen. Kritiker halten dagegen, dass die Hospitalisierungen und Todesfälle auf einem tiefen Niveau verharren. Die Erfahrung aber zeigt, dass die Todesfälle den neu gemeldeten Infektionen bis zu zwei Wochen hinterherhinken. Die Todesfälle werden sich zwangsläufig häufen, auch wenn sich die Ansteckungen momentan noch auf weniger gefährdete Altersgruppen konzentrieren. Das Virus aber hat schon im Frühjahr gezeigt, dass es problemlos die Alterspyramide hochkraxelt und zu den Alten und Vulnerablen gelangt.

Die Corona-Milchmädchen-Rechnung

Die Rechnung ist deshalb denkbar einfach: Je mehr junge oder mittelalterliche Menschen an Covid-19 erkranken, desto mehr Alte und Vulnerable werden dem Virus zum Opfer fallen. Ferner ist zu erwarten, dass auch jüngere, nicht-vorbelastete Personen von einem schweren Krankheitsverlauf betroffen sein werden. Es ist alles schon geschehen, und es wird sich genau gleich oder schlimmer wiederholen, allem Wunschdenken und Skeptizismus zum Trotz. Das Virus ist uns Menschen nicht aus heiterem Himmel freundlich gesinnt. Epidemiologen und Virologen stellen keine Abschwächung von SARS-CoV-2 fest. Wir laufen also gerade sehenden Auges in das offene Messer. Nur ist die Bereitschaft, noch einmal einschneidende Einschränkungen in Kauf zu nehmen in der Gesellschaft fast nicht mehr vorhanden. Das bedeutet, dass wir Mitmenschen bewusst opfern werden.

Das Mantra der Rechtfertigung

Fadenscheinige Argumente werden bemüht und gebetsmühlenartig wiederholt: Diese Menschen wären sowieso gestorben; Tod und Krankheit müssen wir als einen Bestandteil des Lebens verstehen; wenige müssen sich für das Wohl der anderen opfern; die Wirtschaft ist höher zu gewichten als das Leben weniger; Freiheit ist höher zu gewichten als das Leben weniger. Fadenscheinig sind diese Argumente, weil sie nur von jenen, die nicht direkt von Corona betroffen sind, vorgebracht werden. Diese Argumente haben wir bereits gehört, und wir werden sie wieder hören. Sie sind zu einem fatalen gesellschaftlichen Konsens geworden, der einen zweiten Lockdown grundsätzlich verunmöglicht. Unserer Landesregierung ist nicht entgangen, dass sich nicht nur Splittergruppen, sondern eine Mehrheit der Bevölkerung gegen einen zweiten Ausnahmezustand stellt. Deshalb überlässt sie es den Kantonen, der Pandemie Herr zu werden. Die Kantone aber handeln schwach und uneinheitlich, während sich das Virus einheitlicher in ländliche und städtische Regionen ausbreitet.

Laisser-Faire

Schwache Kantone, Partikularinteressen aus Wirtschaft und Gesellschaft, Corona-Müdigkeit, verschwörungstheoretischer Irrglauben und eine weit verbreitete fatalistische Einstellung gegenüber der Pandemie rollen dem Virus den roten Teppich aus. Partys werden dort gefeiert, wo es noch möglich ist, also womöglich einfach jenseits der Kantonsgrenze. Gottesdienste ohne Schutzmaske, aber mit Gesängen werden dort abgehalten, wo niemand hinschaut. Private Feste werden gefeiert, weil man sich doch das Leben weder vom Staat noch von einem Virus verbieten lässt. Hochzeiten werden gefeiert, als gäbe es keine Pandemie. Schulen und Schulklassen werden nicht quarantänisiert, weil in einigen Kantonen Kinder und Jugendliche gar nicht getestet werden. Zu allem Überfluss sind nun Grossveranstaltungen mit über 1000 Personen in der Schweiz wieder erlaubt. Genau an solchen Anlässen findet gerade eine enorme Verbreitung der Krankheit statt.

Winter is coming

Erschwerend kommt auch die kältere Jahreszeit hinzu. Im Herbst und Winter arbeiten wir wieder in geheizten, stickigen, schlecht belüfteten Räumen. Erwiesenermassen hat das Virus unter solchen Bedingungen leichtes Spiel. Ansteckungen am Arbeitsplatz, in Pendlerzügen und in Bars werden sich häufen. Ferner verliert unser Immunsystem in den kalten und dunklen Jahreszeiten an Kraft. Unter diesen ungünstigen Voraussetzungen wird das Corona-Virus auch in der Schweiz durchmarschieren und unzählige Todesopfer fordern. Wie teuer dieser Durchmarsch die Wirtschaft zu stehen kommen wird, wird sich weisen. Wer jedoch glaubt, der Supergau würde die Schweiz verschonen, täuscht sich gewaltig. Alles spricht dafür, dass wir auch hier eine gewaltige zweite Welle erleben werden. Der Corona-Sonderfall Schweiz ist ein Hirngespinst weltfremder und wohlstandsverwahrloster Schweizer und Schweizerinnen.

Tu quoque, Helvetia, memento moriendum esse.




Die Krö­nung der Arroganz

Die Welt wird geplagt von einer Seuche namens Corona. Dabei handelt es sich um ein neuartiges Virus, welches von Tieren, wahrscheinlich von Fledermäusen über einen Zwischenwirt auf den Menschen übergegangen ist. Das Fachwort für diesen Vorgang heisst Zoonose. Der menschliche Organismus ist gegen dieses Virus nicht oder nur schlecht gewappnet, was zu schweren Krankheitsverläufen oder dem Tod führen kann. Dies wurde zu Beginn der Krise verniedlicht oder schöngeredet. Es sei nur eine leichte Grippe, liess der Volksmund verlauten. Diese Aussage zeugt von einer Arroganz, welche dieser Pandemie überhaupt erst den Weg ebnete.

Arrogant und ignorant hat der Westen nach China geschaut, als das Coronavirus dort noch im vergangenen Jahr sein Unwesen zu treiben begann. Nach anfänglichen Vertuschungsversuchen hat die chinesische Führung jedoch schnell begriffen, welche Gefahr von dieser neuartigen Krankheit ausging, und reagierte drastisch. Währendessen war man sich in Europa und Amerika sicher, dass dieses Problem nur China betrifft. China liegt weit, weit weg und hat nichts mit uns hier im Westen zu tun, ausser dass sie eine Unmenge Güter für uns produzieren. So beruhigte man sich hier im Paradies auf Erden. Weiter kamen und gingen Flüge nach China und von China in den Rest der Welt, und mit diesen Flügen landet auch das Virus in Europa und Amerika.

Schon begann es, in Italien zu brennen. Hier in der Schweiz hielt man es natürlich für ein italienisches Problem, welches das Alpenland gewiss nicht zu erschüttern vermochte. Wurde einfach übersehen, dass zwischen Italien und der Schweiz ein reger Personenverkehr herrscht? Wahrscheinlich wollte man einfach nicht wahrhaben, das etwas auf uns zurollt, was unser Leben und unser Selbstverständnis für immer verändern sollte. So steckte man zuerst einfach den Kopf in den Sand - Vogel-Strauss-Politik aus dem Bilderbuch. Dann wurden die ersten Fälle im Tessin gemeldet und der Flächenbrand nahm seinen Lauf. Arroganz und Ignoranz haben sich nicht ausbezahlt. Wir bezahlen im Gegenteil einen hohen Preis dafür, menschlich, sozial, wirtschaftlich.

Arrogant war auch das Selbstverständnis des Menschen, arrogant war, zu glauben, diese Natur wäre unser Untertan und nur dafür geschaffen, von uns ausgebeutet zu werden. Vorgedrungen sind wir in den letzten Winkel der Erde. Die Lebensräume der Tiere haben wir zerstört oder mit unserem Raum vermischt. Abgeknallt, geschlachtet, gezüchtet, gerodet, gebrandschatzt und gefressen haben wir, als ob es kein Morgen gäbe. Doch diese Natur - um mich an die Worte des hochgeschätzten Harald Lesch anzulehnen - ist viel älter als unsere menschliche Zivilisation, und sie hat zurückgeschlagen. Wahrscheinlich hat sie noch einiges mehr in peto als dieses noch nicht apokalyptische Virus. Die Häufung neuartiger Krankheiten ist auf jeden Fall nicht zu übersehen. SARS, MERS, Schweine- und Vogelgrippe sowie Covid-19 sind in einem Zeitraum von nur 17 Jahren aufgetaucht. Beginnt sich hier eine Natur zu wehren gegen eine Spezies, welche sich ihr gegenüber selber wie eine Krankheit verhält?

Doch immer noch hoffen viele, alles möge wieder wie früher sein. Es kann nicht mehr wie früher sein. Es ist jetzt höchste Zeit, zu unserer Erde und deren Natur Sorge zu tragen und ihr den Respekt, den sie verdient, entgegenzubringen. Das kann nur bedeuten, dass wir uns einschränken müssen. Das wiederum kann nur mit einer Demontierung der Goldenen Kälber des unendliches Wachstums, Konsums und Forttrampelns einhergehen. Das ist die einzige logische Konsequenz, die den Untergang des Homo Sapiens verhindern kann. Schliesslich warnt uns nicht nur ein Virus, sondern auch der erbärmliche Zustand der ganzen Erde und des Klimas vor unserem drohenden Exit. Jetzt oder nie muss der «denkende» Mensch zeigen, ob er fähig ist, die richtigen Schlüsse für sein Überleben zu ziehen und auch danach zu handeln.

Skeptizismus ist angezeigt. Fast alle warten nur darauf, wieder die endlose Party des Kapitalismus zu feiern, auf das Gaspedal zu drücken, um die Welt zu jetten, Häuschen um Häuschen aus dem Boden zu stampfen, unnötigen Bullshit zu kaufen, unnötige Meetings der Wichtigtuerei zu veranstalten und überhaupt wieder in den alten Trott der Dekadenz zu verfallen. Das ist die Krönung unser Arroganz und führt direkt in den Abgrund. Dabei hätten wir in dieser Auszeit die Möglichkeit gehabt, in uns und unseren Nächsten zu erkennen, dass das Wichtigste in unserem Leben einfach unbezahlbar und nicht käuflich ist: Gesundheit, Liebe, Respekt, Freude, Freundschaft, Zufriedenheit, Unterstützung. Das alles wird leider im Tanz der Arroganz und Ignoranz wieder in Vergessenheit geraten.




Die neu­en Lei­den des Herrn Urner

Beim Kennenlern-Gespräch wurde Edgar Urner* von drei Kitteln nach seinem Befinden gefragt. Urners Blick hastete vom einen zum anderen. Schliesslich fauchte Urner die drei an: "Ich sage gar nichts, bevor ich nicht weiss, ob einer von Ihnen Muslim ist!". Er lehnte sich zurück und verschränkte abwehrend und ein wenig triumphierend die Arme. Die drei gegenüber warfen einander ratlose Blicke zu. "Nicht… das ich wüsste…", entgegnete der Mittlere unsicher. Die beiden anderen verneinten ebenfalls. Ausgezeichnet, sagte Urner, dann könne man ja Klartext reden und endlich mit diesem Wischiwaschi aufhören. Man müsse das Problem bei der Wurzel packen. Der Mittlere nickte verständnisvoll und forderte Urner auf, seine Sicht der Dinge darzulegen. "Sie sind überall! Und alles, aber alles nehmen sie uns weg", kreischte Urner. Zuletzt hätten sie uns auch noch die Wurst genommen, und deshalb müsse man handeln, jetzt oder nie, brüllte Urner seine Gesprächspartner an. "Interessant, fahren Sie fort.", erwiderte der mittlere Kittel und hakte kurz etwas auf einem Formular ab.

Urner lief nun zu Bestform auf. Sein herrscherischer Blick schweifte über die vor ihm brodelnden Menschenmassen. "Es geht um die Wurst, meine Damen und Herren!", beschwor Urner seine Zuhörer. "Wer uns die Wurst nimmt, will uns an den Kragen! Verstehen Sie?", trumpfte Urner auf und trommelte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Ob er das ein wenig ausführen könne, fragte die linke Frau in Weiss. Die Wurst sei ja nur der Anfang, so Urner, nein, man könne ja keinen Fuss mehr vor die Türe setzen, ohne auf einen Gebetsteppich zu treten. "So sieht's aus, so weit ist es gekommen!" keifte Urner. Er legte eine rhetorische Pause ein. "Hören Sie Stimmen?" fragte der Mittlere. Gewiss, überall und immer, von jedem höheren Gebäude höre er diese Muezzin-Gesänge, bestätigte Urner. "Da hilft es nicht einmal, dass ich im Auto «Im Aargau sind zwöi Liebi» auf voller Lautstärke höre", donnerte Urner. "Wenn wir so weiterfahren", fuhr Urner fort, "enden wir noch alle im Halal". Das sei Arabisch für Hölle, fügte er hinzu, seine Bildung betonend.

Der Kittel auf der rechten Seite fragte Urner, wie diese Hölle denn aussehen würde. Das fühle sich an, als ob man in einem «süttig» heissen Kochtopf voller Poulet-Wienerli schmoren müsse, erklärte Urner leicht ungläubig. "Das haben sie nicht gewusst?" wandte er sich fragend an seine Gesprächspartner. "Wie steht es mit Agressionen, Herr… äh… Urner, genau, Urner?", wollte der mittlere Kittel wissen. Neben der Hölle, genannt Halal, gebe es ja noch den Vorhof zur Hölle, und das sei ein Spiessrutenlaufen durch all diese linken Gutmenschen, führte Urner aus. "Das ist doch die Wurst, äh… Wurzel allen Übels! Die wollen uns Spankferkel-Erlebnis-Reisen nach Argentinien verbieten. Sehen sie es nicht? Auch diese Linken sind vollkommen Halal! Dahinter steckt der eigentliche Angriff auf unser christliches Wurstland und Weltwild!", schloss Urner.

Die drei Kittel zogen sich zur Beratung zurück. Nach fünf Minuten kehrten sie zurück und eröffneten Herrn Urner, dass man eine Lösung gefunden habe. Der Chef-Kittel sagte: "Wir werden Sie von diesen eklatanten Problemen abschirmen, Herr Urner, bis sich die Lage da draussen zum Besseren gewendet hat. Wir haben die Pflicht, Sie vor dieser Welt zu schützen." Herr Urner bedankte sich und wurde von einer unbekannten Frau verständnisvoll aus dem Zimmer begleitet. Als Herr Urner nach 20 Jahren das Gebäude zum ersten Mal verliess, musste er keinem einzigen Gebetsteppich ausweichen. In der Stadt, er hielt fast nicht für möglich, stiess er auf einen Wurststand und leistete sich eine Kalbsbratwurst. Nachdem er diese genüsslich verzehrt hatte, verstand er, dass nun alles gut war. Und als er dann noch den Gesang einer Jodlergruppe vernahm, gab es für ihn kein Halten mehr. Fast wollte er «Im Aargau sind drü Liebi» singen. Die drei Weisskittel hatten ganze Arbeit geleistet und hier draussen gründlich aufgeräumt, dachte er und gönnte sich eine dieser Lila-Laune-Pillen.

*Name geändert, richtiger Name der Redaktion bekannt.




DSGVO und die Schweiz

DSVGO oder GDPR?! Ganz Europa spricht im Moment davon. Ganz? Nein, das Land der HelvetierInnen hört nichts davon, weiss nichts davon, kümmert sich wie oft nicht darum, was jenseits der geistigen Barrikaden vor sich geht. Auf der Insel der Glückseligen, wo fremde Richter gerade Gefahr laufen, entmachtet zu werden, will sich niemand um fremde Gesetze kümmern. Ein solcher Erlass ist die EU-DSGVO. In der ungekürzten Version heisst er Europäische Datenschutz-Grundverordnung. Diese tritt am 25. Mai 2018 in Kraft und wird kräftig am vermeintlichen Unbeteiligtsein von Schweizer Firmen, Institutionen und Privatpersonen rütteln.

«EU-Was?!» kann uns doch gestohlen bleiben, denkt sich der Schweizer reflexartig. Wir sind nicht in der EU, wir wollen nicht in die EU, und überhaupt, die sollen uns in Ruhe lassen! Die Frage ist aber nicht, ob uns die EU behelligt, sondern eher, wie wir mit den Daten von EU-BürgerInnen umgehen. Die Personendaten ihrer BürgerInnen will die EU mit der Datenschutz-Grundverordnung auch im Ausland besser schützen. Diese Verordnung erstreckt sich auf alle natürlichen und juristischen Personen, die weltweit Daten von EU-BürgerInnen verarbeiten. Davon gibt es eben einige in der Schweiz: Personalvermittlungen, Arbeitgeber, Spitäler, Provider, Export-Firmen und eben auch all jene, die eine Webseite betreiben.

DSGVO mit Enter-Taste
Drücken Sie «Enter»! Ab dem 25. Mai 2018 gilt die DSGVO alias GDPR. Bild Pixaby, Lizenz CC0.

Vor allem jene Schweizer Einrichtungen könnten betroffen sein, welche personenbezogene Daten von EU-BürgerInnen kommerziell verarbeiten, speichern, einordnen, zusammenführen und weitergeben. Bei diesen sensiblen Daten handelt es sich um Namen, Anschriften, Bewegungsprofile, Bewerbungsunterlagen, Anstellungsverhältnisse, Kundenlisten, Patientendaten und eben auch IP-Adressen, die beim Besuch einer Webseite in den Logs anfallen. Auch die Hürde zur kommerziellen Verarbeitung personenbezogener Daten ist sehr niedrig und schnell genommen. Dazu reichen Werbe-Einblendungen auf einer Webseite bereits aus. Doch wesentlich problematischer wird es, wenn Webseitenbetreiber BesucherInnen aus EU-Ländern einen Schwarm von Tracking-Technologien unterjubeln, die personenbezogene Daten in datenschutzrechtlich zweifelhafte Drittländer wie die USA exportieren. Viele Schweizer Medienportale mit Reichweite in die EU verwenden solche problematische Technologien.

Sie sollten über die Bücher gehen, denn allem Anschein nach meint es die EU mit dem Datenschutz ihrer BürgerInnen ernst. Mit der DSGVO will sie ihren BügerInnen die Hoheit über ihre persönlichen Daten zurückgeben. Sie verschafft Ihnen umfassende Auskunfts-, Lösch-, und Berichtigungsrechte gegenüber DatenverarbeiterInnen. Letztere werden auf der anderen Seite verpflichtet, ihre Datenverarbeitungstätigkeit zu dokumentieren, gegenüber den Betroffenen transparent kund zu tun und auf Anfragen zu reagieren. Neu gilt für Datenverarbeitungstätigkeiten das Prinzip von «Opt-In», das heisst, dass Betroffene eine ausdrückliche und vorgängige Einwilligung in die Verarbeitung ihrer Personendaten abgeben müssen. Das dürfte der Werbebranche, die sich bislang auf dem «Opt-Out»-Prinzip gesonnt hat, missfallen. Die DSGVO wird etliche an Illegalität grenzende Praktiken von Datensammlern und -verkäufern scharf sanktionieren und trockenlegen. Das ist zu begrüssen.

Inwiefern EU-BürgerInnen ihre neuen Datenschutzrechte auch gegenüber Schweizer DatenverarbeiterInnen geltend machen werden, wird die Zukunft zeigen. Auf jeden Fall zielt die DSGVO ganz klar darauf ab, diese Rechte auch gegenüber Firmen ausserhalb der EU-Grenzen durchzusetzen, also auch in der Schweiz. Im Fokus der Verordnung stehen vordergründig amerikanische Tech-Giganten wie Google, Facebook und Amazon, welche die Daten von EU-BürgerInnen im grossen Stil verarbeiten. Diese müssen sich verpflichten, die datenschutzrechtlichen Vorgaben der EU einzuhalten. Ansonsten drohen empfindliche Strafen. Alles deutet darauf hin, dass sich die IT-Riesen an die Verordnung halten werden. EU-BürgerInnen haben somit in naher Zukunft eine mächtige rechtliche Handhabe gegenüber internationalen Konzernen. Im Sinne des Rechts auf Vergessen wird eine EU-BürgerIn beispielweise gegenüber Facebook die Löschung sämtlicher personenbezogener Daten, die über sie gespeichert wurden, einfordern können. Diese Möglichkeit wird SchweizerInnen leider verwehrt bleiben, weil die DSGVO zwar unter gewissen Voraussetzungen gegen sie, aber gewiss nicht für sie gilt. Klartext: Schweizer BürgerInnen sind schlechtergestellt und gehören weiterhin der international vehökerbaren Datenmasse an.

Im Bezug auf die konkrete Umsetzung der DSGVO herrscht momentan in Europa und auch hierzulande heillose Verwirrung. Gerade kleine BetreiberInnen von Webseiten sind mit den hohen Anforderungen der DSGVO rechtlich und technisch überfordert. Sie entscheiden sich deshalb, ihr Blog oder ihre Webseite vom Netz zu nehmen, um sich keinen rechtlichen Risiken auszusetzen. Diese sind zweifellos vorhanden, da sich die DSGVO auf alle erstreckt, die personenbezogene Daten von EU-BürgerInnen verarbeiten, also auch auf WebseitenbetreiberInnen, welche lediglich die IP-Adresse ihrer BesucherInnen erfassen. Das ist bereits eine konkrete Datenverarbeitung. Kontrovers diskutiert wird auch, ob es nach Inkrafttreten der DSGVO noch zulässig sein wird, Content Delivery Networks (CDNs) oder Google Fonts einzubinden. Diese Inhalte stammen zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Drittländern und bringen womöglich eine Verarbeitung personenbezogener Daten mit sich. Es bestehen also kurz vor der rechtskräftigen Einführung der Verordnung etliche Rechtsunsicherheiten, gerade für die BetreiberInnen kleiner Webseiten. Es bleibt zu hoffen, dass diese Unsicherheiten nicht zu einem wahrhaftigen Blog- und Webseiten-Sterben führen und sich Inhalte nicht bei den grossen, rechtlich und finanziell potenten Plattformen konzentrieren werden. Das Internet würde ärmer und die beabsichtigte Stärkung des Datenschutzes würde sich in das Gegenteil verkehren.

Die Stossrichtung der DSGVO stimmt. Aber eine präzisere Einschränkung der Geltung auf datenverarbeitende Firmen mit einem gewissen Mindestumsatz wäre für ein prosperierendes Internet zwingend notwendig gewesen. Von einer Stärkung des Datenschutzes würde auch die Schweiz und ihre BürgerInnen profitieren. Aber im Alleingang ist es unwahrscheinlich, einen starken Datenschutz international durchzusetzen. Die EU hat gegenüber internationalen Konzernen das notwendige Gewicht dazu. Eine Anlehnung der Schweiz an den EU-Datenschutz wäre unter diesen Umständen zu begrüssen. Das politische Klima in der Schweiz und der fehlende Rahmenvertrag mit der EU lässt eine Annäherung im Moment jedoch kaum zu. Die Auswirkungen der DSGVO werden auf jeden Fall auch in der Schweiz zu spüren sein. Ohne Panik gilt es vorerst, die künftige Rechtsprechung zu Einzelheiten der DSGVO aufmerksam abzuwarten und zu beobachten. Für nicht-kommerzielle WebseitenbetreiberInnen in der Schweiz und in der EU, die Personendaten im erlaubten Rahmen bearbeiten, sind die Risiken kalkulierbar. Datenverarbeitende Firmen mit Reichweite in die EU wiederum sollten sich schleunigst rüsten, um empfindliche Bussen zu vermeiden.

In der Schweiz aber schläft oder verweigert man. Die EU ist weit weg. Noch.

*Dieser Artikel ist keine Rechtsberatung. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigeit oder Richtigkeit.*

 




E‑Voting — Das Ende der Demokratie?

#tldr: E-Voting birgt neben Chancen auch etliche technologische Risiken, welche die Glaubwürdigkeit von demokratischen Entscheidungen in Frage stellen könnten. Zumindest das Experiment sollte gewagt werden, weil E-Voting den Zugang zur Demokratie gerade für junge Stimmbürgerinnen erleichtert.

Gegner und Befürworter von E-Voting machen in der Schweiz gerade mobil, da die Einführung der elektronischen Stimmabgabe auf das Jahr 2019 vorgesehen ist. Während etliche europäische Länder die Lancierung von E-Voting aus Sicherheitsbedenken auf Eis gelegt haben, glaubt die Schweiz, dieser technologischen Herausforderung gewachsen zu sein. Die Technologien sind vorhanden. Nahezu alle Stimmbürger verfügen über elektronische Kommunkations-Geräte oder einem Zugang zu solchen und können diese - vielleicht auch nur unter Anleitung - bedienen. Gerade die ältere Generation ist im Bezug auf die Bedienung elektronischer Geräte nicht ganz sattelfest. Die Möglichkeit der brieflichen Stimmabgabe müsste für eine Übergangsphase bestehen bleiben. Zudem wäre eine pflegliche Begleitung der älteren Generation in die digitale Demokratie angezeigt.

Insgesamt aber sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob sowohl der Staat als auch die Stimmbürgerinnen von E-Voting profitieren können.

E-Voting verspricht auf den ersten Blick eine Vereinfachung und Beschleunigung der demokratischen Entscheidungsfindung. Die Administration von Wahlen und Abstimmungen, die Stimmabgabe und Stimmauszählung würde zweifellos schneller, komfortabler und kostensparender über die Bühne gehen. Ein vereinfachter Zugang zu Wahlen und Abstimmungen kann mehr Wählerinnen und Stimmbürgerinnen mobilisieren: ein Gewinn für die Demokratie. Würde dieser Effekt aber ausbleiben, wäre die viel beschworenen Politik-Verdrossenheit wohl Tatsache. Ferner ist zu hoffen, dass die Beschleunigung von demokratischen Prozessen durch E-Voting nicht zu einer Flut von Vorlagen führt, welche die Stimmbürgerinnen überrollt, überfordert und abstumpft. Insgesamt aber sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob sowohl der Staat als auch die Stimmbürgerinnen von E-Voting profitieren können.

Tatsächlich dürfte es schwierig sein, das jetztige Wahl- und Stimm-Verfahren entscheidend zu verfälschen, da es auf dezentralen, von Menschen durchgeführten Checks und Gegenchecks beruht.

Was spricht also gegen die Einführung von E-Voting? Gegner des E-Votings geben zu bedenken, dass Wahl- und Abstimmungsergebnisse dadurch leichter manipulierbar seien. Wenn Wahlen und Abstimmungen manipuliert werden können und somit nicht mehr den Willen des Stimmvolkes abbilden, ist die Demokratie tatsächlich am Ende angelangt. Fraglich bleibt, warum wir bislang die Gewissheit hatten, dass die Demokratie mit dem System der brieflichen Stimmabgabe nicht manipuliert wurde. Diese Gewissheit beruht auf dem Vertrauen in das System. Tatsächlich dürfte es schwierig sein, das jetztige Wahl- und Stimm-Verfahren entscheidend zu verfälschen, da es auf dezentralen, von Menschen durchgeführten Checks und Gegenchecks beruht. Bei elektronischen Verfahren wiederum ist die genaue Funktionsweise vielleicht nicht einmal mehr für Experten nachvollziehbar. E-Voting setzt also voraus, dass wir jenen Experten, die das System entwickelt und überprüft haben, blind vertrauen müssen. Komplexe Software ist jedoch nie frei von Fehlern. Das Vertrauen in E-Voting-Software wackelt hier zum ersten Mal.

Zweifellos gibt es mächtige staatliche und private Gruppierungen, welche zu solchen Infiltrationen und Manipulationen in der Lage sind.

Ein möglicher Angriffsvektor ist die Manipulation der Software auf den Servern oder auf den Abstimmungsgeräten (Computern, Tablets, Smartphones) der Stimmbürgerinnen. Die Gefahr eines erfolgreichen Angriffs auf die IT-Infrastruktur eines Landes ist reel, wie der aktuelle «Hack» des deutschen Bundestages unterstreicht. Auch der schweizerische Rüstungskonzern Ruag wurde schon digital unterwandert. Sollte es Angreifern gelingen, in sensibelste Bereiche der E-Voting-Infrastruktur vorzudringen, ist es um die Demokratie geschehen. Die Erfahrung zeigt, dass solche gezielten Angriffe stattfinden und vielfach den beabsichtigten Schaden herbeiführen. Zweifellos gibt es mächtige staatliche und private Gruppierungen, welche zu solchen Infiltrationen und Manipulationen in der Lage sind. Auch die Motivation für solche Angriffe ist gegeben, zumal es bei Abstimmungen wie bspw. über die Beschaffung von Kampfflugzeugen um Milliarden von Franken geht. Anderseits fliessen aber die Erkenntnisse über mögliche Angriffsvektoren in die Entwicklung der E-Voting-Software ein. Die Entwickler werden versuchen, die Software und die Hardware gegen alle denkbaren Angriffe zu härten.

Wer kann aber schon garantieren, dass neuere Prozessoren keine neuen Schwachstellen enthalten?

Auch wenn wir der Software vertrauen könnten, darf die Sicherheit der Hardware, der Elektronik, nicht aus den Augen verloren werden. Leider ist das Vertrauen in die Hardware erschüttert, seit bekannt wurde, dass jahrelang gravierende Sicherheitslücken in fast allen modernen Prozessoren klafften. «Meltdown» und «Spectre» wurden diese beiden Angriffsvektoren getauft. Diese Sicherheitslücken erlaubten oder erlauben noch immer das unberechtigte Auslesen von hochsensiblen Daten wie Passwörtern auf allen Betriebssystemen. Die einzig wirkliche Abhilfe für dieses Problem ist eine neue Prozessorgeneration, welche auf einer anderen Architektur beruht. Es wird wahrscheinlich noch ein Jahrzehnt vergehen, bis die letzten der anfälligen Prozessoren nicht mehr zum Einsatz kommen. Wer kann aber schon garantieren, dass neuere Prozessoren keine neuen Schwachstellen enthalten? Diese Garantie ist angesichts der zunehmenden Komplexität von Technologie nicht vorhanden.

Sollten bei einer umstrittenen Abstimmung auch nur zwei Prozent dieser Geräte manipulierte Stimmen abgeben, könnte das Abstimmungsresultat entscheidend verfälscht werden.

Auch die Endgeräte der Stimmbürgerinnen sind leider alles andere als sicher. Etliche Computer und Smartphones sind infiziert mit Trojanern und Viren. Deren Nutzerinnen haben die Kontrolle über ihre «Zombie-Geräte» verloren, ohne es überhaupt zu merken. Sollten bei einer umstrittenen Abstimmung auch nur zwei Prozent dieser Geräte manipulierte Stimmen abgeben, könnte das Abstimmungsresultat entscheidend verfälscht werden. Es ist gewiss hilfreich, das Sicherheitsbewusstsein der Geräte-Nutzerinnen fortlaufend zu schärfen, um die Stabilität der gesamten IT-Infrastruktur zu stärken. Geben wir es zu: die technologischen Voraussetzungen für E-Voting sind insgesamt nicht makellos oder sogar bedenklich. Berücksichtigen wir aber, dass die gesamte Wirtschaft, unsere Banken, unser Sozial- und Privatleben trotz all dieser Anfälligkeiten noch nicht zusammengebrochen sind, sollten wir dem Experiment «E-Voting» mit der gebotenen Vorsicht eine Chance geben. Sollte es funktionieren, kann die Demokratie damit vereinfacht und sogar neu belebt werden. Andernfalls muss bei den geringsten Anzeichen von Manipulation sofort der Stecker gezogen werden.




Will­kom­men im Über­wa­chungs­staat Schweiz!

Ich heisse Sie ganz herzlich im Überwachungsstaat Schweiz willkommen! Seit dem ersten März 2018 dürfen Sie sich nun ganz sicher fühlen, denn die gesamte Kommunikation aller Terroristen und Verbrecher wird nun in der Schweiz lückenlos überwacht. Ganz nebenbei wird auch Ihre gesamte Internetkommunikation aufgezeichnet und für ein halbes Jahr gespeichert. Der Staat weiss nun, dass sie dieses «aufrührerische» Blog lesen. Fühlen Sie sich nun immer noch so sicher?Aber ja doch, wer ja nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu verlieren! Denken Sie nur einmal an unsere Firmen; die haben doch nichts zu verbergen. Oder vielleicht doch? Firmengeheimnisse? Gut, der Überwachungsstaat Schweiz garantiert uns, dass er keine Inhalte durchschnüffelt. Nein, er lässt ja nur Meta- und Verbindungsdaten speichern. Kaum ist das neue BÜPF in Kraft getreten, zeigen Recherchen des Schweizer Fernsehens, dass die Provider jedoch viel mehr speichern, nämlich die gesamte Surf-History von Internetanwendern. Somit lässt sich lückenlos nachvollziehen, wer was wo wann und wie aufgerufen hat, also auch Inhalte, sofern sich diese in keinem geschützten Bereich befinden. Das betrifft die grosse Mehrheit aller Internet-Inhalte, welche heute "zum Glück" mit permanenten Adressen versehen sind, d.h., sie verschwinden nicht einfach so.

Schönheit liegt im Auge des Überwachers
I see you, I hear you, I'm interested in you.

Kaum hat der Europäische Gerichtshof (EUGH) die anlasslose Vorratsdatenspeicherung gekippt, stürzt sich die Schweiz in das aussichtslose Abenteuer der flächendeckenden Überwachung. Alle Internet-Nutzerinnnen sind nun auf dem Radar der staatlichen Überwachung angekommen. Alle? Nein, Technologie-Versierte können sich dieser Überwachung mit Leichtigkeit entziehen. Diese Technologien stehen auch Otto Normalverbraucher zur Verfügung. Dazu später mehr. Die Überwachung trifft also zuallerst einmal die grosse Mehrheit der unbedarften Internet-Surfer. Die Verbindungsinformationen von Herrn oder Frau Musterbürger, die manchmal klammheimlich ihren Sex-Fantasien auf dem Internet nachgehen, sind nun nachvollziehbar gespeichert. Wer dort die dünnne Linie überschreitet, könnte schon bald Probleme bekommen. Sie fühlen sich jetzt gewiss immer noch sicher vor den bösen Terroristen, die auf dem Internet Anschläge planen, oder vor den fiesen Hacker-Verbrechern, welche die IT-Infrastruktur des Bundes angreifen. Wir haben anscheinend schon vergessen, dass es für solche Planungen gar kein Internet braucht. Tatsächlich gibt es noch - wir staunen - die Offline-Kommunikation.

Jetzt klebt ihnen der eigene Staat sprichwörtlich am Arsch.

Konsequenterweise müsste der schweizerische Total-Überwachungsstaat also sämtliche Offline-Verbindungs-Daten aller Schweizerinnen registrieren: Blocher trifft Mörgeli am Mittwoch, dem 14. März 2018, um 19:15 Uhr in der Kronenhalle in Zürich (Typ: Verbindungsdaten) - zwecks Besprechung einer Doppelkandidatur für den Bundesrat (Typ: Inhaltsdaten). Beruhigen Sie sich gleich wieder: das war nur ein fiktives Beispiel. Aber warum überwacht denn unser Staat all diese potenziell konspirativen und mutmasslich terroristischen Offline-Aktivitäten nicht mit aller Härte, wie das doch auch im Internet schon praktiziert wird? Es gibt zwei Antworten auf diese Frage. Erstens ist es nicht möglich und zweitens würde eine solche Überwachung den Schweizerinnen zu weit gehen. Im Internet ist diese Totalüberwachung jedoch technisch einfach zu realisieren. Zudem scheinen die Schweizerinnen diesen Eingriff in ihre digitale Privatsphäre hinzunehmen, obwohl sich ihre Kommunikation heute grösstenteils im Internet abspielt. Gut, die Stimmbürgerinnen haben es so - oder nicht anders - gewollt. Jetzt klebt ihnen der eigene Staat sprichwörtlich am Arsch. Ja, diese Formulierung trifft es. Immerhin betrifft diese Total-Überwachung auch die Law&Order-Fraktion, welche manchmal mehr zu verbergen hat, als wir gemeinhin annehmen. Da lohnt sich manchmal nur schon ein Blick in geleakte Datenbanken, z.B. in jene von Ashley Madison (Washington Post, engl.).

Wer halt nichts zu verbergen hat, hat halt auch nichts verlieren, oder?

"Den Luxemburger Richtern zufolge greift die Speicherung von Telekommunikationsdaten so sehr in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens ein, dass die Datenspeicherung „auf das absolut Notwendige“ beschränkt werden muss." (Zitat: faz.net)
Wieder verfalle ich und Sie in ungläubiges Staunen: Die Europäer schützen ihre Bürger besser als wir Schweizer. Wir Deppen hingegen beschneiden unsere Grundrechte freiwillig auf demokratischer Basis. Gut, das muss man als Demokrat akzeptieren. Sicher werden Sie es auch akzeptieren, wenn der grosse Bruder aus Übersee an die Türe klopft und die Herausgabe von Daten verlangt. Keine Sorge, wir werden nicht Nein sagen. Sicher werden Sie es auch akzeptieren, wenn eine Hacker-Gruppe die halbe Schweiz de-anonymisiert und ihre Verbindungsdaten offenlegt. Wer garantiert Ihnen, dass genau dies nicht geschieht? Der Überwachungsstaat Schweiz auf jeden Fall garantiert das nicht, zumal er die Daten ja bei privaten oder halb-privaten Providern erheben lässt. Fühlen Sie sich noch immer sicher vor Terroristen und Online-Verbrechern? Wer halt nichts zu verbergen hat, hat halt auch nichts verlieren, oder? Sind Sie schon ein bisschen unsicher geworden? Empfinden Sie schon ein gewisses Unbehagen dem Staat gegenüber? Gut, dann schauen wir weiter.

Wir haben unsere Freiheit einer trügerischen Sicherheit geopfert.

Unsere digitale Wirtschaft, die nun im Kanton Zug soeben zum Cryptocurrency-Eldorado werden möchte, preist gerne die Sicherheit ihrer Infrastruktur an. Damit ist nun leider Schluss, denn der Staat kann nun von jedem Anbieter von Telekommunikations-Dienstleistungen die Erhebung und Herausgabe von Verbindungsdaten verlangen. Organisationen und Firmen, welche ihre berechtigten Geheimnisse Schweizer Firmen anvertrauen möchten, werden es sich jetzt zwei Mal überlegen. Standortvorteile, ganz zu schweigen von unseren Grundrechten, haben wir also auch gleich einer zweifelhaften Sicherheit geopfert. So, jetzt sollten wir langsam an den Punkt gekommen sein, an dem wir feststellen, dass wir einen riesigen Fehler gemacht haben: Wir haben unsere Freiheit einer trügerischen Sicherheit geopfert. Ja, diese Sicherheit ist trügerisch, denn ich zeige Ihnen nun, wie Terroristen oder auch Sie als unbescholtene Bürgerin dieser Überwachung spielend und legal entgehen können. Wenn Sie Ihre Privatsphäre zurück haben wollen, lesen Sie weiter! Nein, das ist keine Anleitung zu Straftaten, nein, das ist digitale Selbstverteidigung für rechtskonforme Bürgerinnen.

  •  Surfen Sie in einem öffentlichen Netz! Easy 😉
  • Nutzen Sie den Tor-Browser. Er anonymisiert ihre IP-Adresse. Empfohlen gerade oder auch in öffentlichen Netzen.
  • Betreten Sie ganz legal das Dark Web mit I2P oder freenetproject.org. Das sind getarnte und verschlüsselte Netze auf der bestehenden Internet-Infrastruktur. Dort lässt sich ganz legal und sicher kommunizieren. Verbrechen sind dort natürlich auch möglich, aber damit wollen wir nichts zu tun haben, wie im richtigen Leben halt.
  • Für ein bisschen Fortgeschrittenere: Nutzen sie die tor-basierte Linux-Distribution Whonix in virtuellen Maschinen auf einem dedizierten Computer. Da gucken Überwacher wirklich in die Röhre. Da spielt es fast keine Rolle in welchem Netz Sie sich bewegen. Edward Snowden empfiehlt die Linux-Distribution «Tails».
  • Mieten Sie sich ein VPN bei einem vertrauenswürdigen Anbieter! Ihre Aktivitäten lassen sich nicht nachvollziehen. Anmerkung: Schweizer VPN-Anbieter müssen nun natürlich Verbindungsdaten erheben. (Ade Standortvorteil!) Wichtig: Meiden Sie den Gratis-VPN-Anbieter hola.org. Er macht Sie ungefragt zu einem Exit-Knoten, der ihre IP-Adresse mit den Handlungen anderer in Verbindung bringt.
  • Nutzen Sie das relativ neue Zeronet in Verbindung mit Tor. Die Daten sind überall und nirgends. Ziemlich kreativer Ansatz, der die Anfänge eines dezentralen Netzes ohne Server skizziert! Horror für Überwachungs-Freaks.
  • Nutzen Sie für vertrauliche Kommunikation einen sicheren verschlüsselten Messenger auf ihrem Mobilgerät. Nein, Whatsapp ist nicht sicher, Skype ist nicht sicher. Nutzen Sie: Signal, Telegram oder Threema. Bei letztem Messenger muss man jetzt leider, leider sagen: Achtung, Standort Schweiz! Etliche vielversprechende Messenger-Apps sind in Arbeit.
  • Am besten leiten Sie die ganze Kommunikation Ihres Mobilgerätes über Tor oder ein VPN Ihrer Wahl.
  • Achten Sie bei Webseiten darauf, dass die Verbindung verschlüsselt über HTTPS hergestellt wird.
  • Deaktivieren Sie Plug-Ins wie Adobe Flash. Diese Software ist unsicher und fehlerhaft. Videos können heute ohne dieses Plug-in abgespielt werden. (Der Tor-Brower schliesst solche Lücken von Vorherein aus.)
  • Zum Schluss: INFORMIEREN SIE SICH ÜBER DIE SOFTWARE, DIE SIE EINSETZEN! Vertrauen Sie weder mir noch den Anbietern von Software blind.

So, nun sind Sie einigermassen vor staatlicher Verfolgung geschützt. Merken Sie sich ferner: Sollten Geheimdienste oder Hacker gezielt auf ihre Geräte zugreifen wollen, können Sie sich dagegen nahezu nicht wehren. Gehen Sie nun trotzdem ganz anonym und entspannt Ihrer ehrlichen Arbeit nach. Noch was: Wenn Sie wissen wollen, wie Sie sich gegen die penetrante Online-Werbe-Industrie schützen können, lesen Sie meinen letzten Beitrag.

Ansonsten viel Spass im Überwachungsstaat!




Gölä — der Pro­let irrt

"Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten". Diese harte Redewendung sollte nur in absoluten Ausnahmefällen bemüht werden. Dem Gölä, der sich im Blick zur Lage der Nation geäussert hat, lasse ich sie jedoch angedeihen. Er bombardiert uns mit Clichés, Halbwissen, Irrtümern und Binsenweisheiten, dass einem Galle hochkommt. Ich möchte an dieser Stelle zeigen, warum Göla besser geschwiegen hätte.

1. Aussage von Gölä: Der Staat gibt allen vorbehaltslos Sozialhilfe

Antwort: Nein, es gibt klare Voraussetzungen für den Bezug von Sozialhilfe und der Staat erwartet, dass Sozialhilfe zurückerstattet wird.

2. Aussage von Gölä: Junge Leute beziehen Sozialhilfe aus Faulheit

Antwort: Nein, viele junge Leute haben heute auf dem Arbeitsmarkt schlicht keine Chance. Der Dienstleistungssektor ist der grösste Wirtschaftszweig der Schweiz. Dieser braucht gut ausgebildete Spezialisten. Diesen Anforderungen genügen längstens nicht mehr alle Stellensuchenden.

3. Aussage von Gölä: Psychische Krankheiten sind kein Grund für Arbeitslosigkeit und Bezug von Sozialhilfe.

Antwort: Ich wünsche Gölä einen Bipolaren oder einen Schizofrenen als Arbeitskollegen. Ferner vergisst unser singender Prolet, dass bei solchen Krankheitsbildern intensive Abklärungen vorgenommen werden. Leute, die von einem Burnout betroffen sind, sind weder arbeits- noch handlungsfähig. Sie sind dermassen gebremst, dass an Arbeit nicht mehr zu denken ist. Gölä sollte sich mit Betroffenen auseinandersetzen, bevor er Psychisch-Kranke auf den Bau schickt.

4. Aussage von Gölä: Die Arbeitswelt seiner Grosseltern war härter.

Antwort: Die Arbeitswelt seiner Grosseltern auf die heutige Zeit zu übertragen, ist ein verfehltes Unterfangen. Alles, aber wirklich alles hat sich verändert. Mit Fleiss und Eifer alleine gewinnt man heute keinen Blumentopf mehr. Die Anforderungen, die an heutige Arbeitnehmer gestellt werden, sind um ein Vielfaches höher. Heute werden fachliche, menschliche, intellektuelle und kommunikative Fähigkeiten gefordert. Seine Grosseltern würden heute Sozialhilfe beziehen, wenn man diesen historischen Vergleich der Arbeitswelten schon anstellen möchte.

5. Aussage von Gölä: Das Pack von Bern...

Antwort: Damit meint er wohl unsere gewählten Volksvertreter. Egal, ob es sich um Vertreter der SVP oder der SP handelt: diese Politiker sind rechtmässig gewählte Repräsentanten des Volkes. Sie als Pack zu bezeichnen, ist eine Ohrfeige für alle WählerInnen und zeugt von mangelnder demokratischer Gesinnung.

6. Aussage von Gölä: Kein Lehrer rät seinen Schülern eine Lehre zu machen.

Antwort: Völlig falsch. Lehrstellensuche ist das A und O der Sekundarstufe. Lehrpersonen reissen sich den Arsch auf, damit ihre Schüler Lehrstellen finden. Das war ein bisschen salopp ausgedrückt. Aber vielleicht versteht Gölä ja nur diese Sprache.

7. Aussage von Gölä: Die EU ist ein künstliches Gebilde. Verschiedene Völker und Kulturen werden gewaltsam vereint, müssen nach denselben Regeln leben.

Antwort: Die Schweiz ist auch ein künstliches Gebilde. Abgesehen davon leben die "Völker" der EU nicht nach denselben Regeln. Es gilt nationales Recht. Aha... da staunt der Prolet.

8. Aussage von Gölä: Ich freue mich auch auf den Moment, wo es auf der Welt nur noch eine Hautfarbe gibt, weil alle Menschen sich untereinander vermischt haben.

Antwort: Wenn das die Lösung für Rassismus ist, dann gute Nacht. Rassismus darf es gerade wegen ethnischer Unterschiede nicht geben. Nein, diese Welt wird sich nicht zu einer Herrenrasse durchmischen, lieber Gölä.

Göläs Aussagen entpuppen sich als proletarische Phrasendrescherei, die schnell widerlegt ist. Lieber Gölä, ich wiederhole: "Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten".




Die Ver­schleie­rung der Werte

Die Burka, ein orientalischer Ganzkörper-Schleier, erregt im Moment die Gemüter. Die einen sehen darin einen Angriff auf die Kultur und die Werte des «Abendlandes». «Abendland» ist übrigens ein perfider Kampfbegriff, der seinen Gegner bereits in sich trägt: das Morgenland. Andere erkennen in der Burka die Unterdrückung der Frau, ein Anachronismus im Kampf für Gleichberechtigung. Gleichstellung von Mann und Frau ist ein unverhandelbarer Wert, den wir bereits mit unserer Muttermilch aufgesogen und verinnerlicht zu haben scheinen, wobei die Muttermilch einiger Generationen noch weniger Freiheit enthielt. Die Debatte um die Burka wird grundsätzlich unter Ausschluss der Betroffenen geführt. Wir unterstellen, dass sie in ihrem System gefangen sind und deshalb nicht objektiv urteilen können. Die Beurteilung übernehmen wir aus der Warte unserer scheinbaren moralischen Überlegenheit.

Bei genauerer Betrachtung steht diese Moral jedoch auf schwachen Beinen. Der Weg zur Gleichberechtigung von Mann und Frau war steinig und holprig und wäre fast an der Trutzburg des Säntis zum Stillstand gekommen. Die Appenzell-Innerrhoder Männer mussten 1990! vom Bundesgericht gezwungen werden, den Frauen das Stimmrecht zuzugestehen, nachdem 19 Jahre zuvor das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene beschlossen wurde. In Sachen Lohngleichheit schwächelt die Gleichstellung der Geschlechter heute noch. Der unverhandelbare Wert der Gleichberechtigung ist im Gegensatz zu anderen Werten jung und noch nicht vollständig verfestigt in den Köpfen der SchweizerInnen. Nun stellt sich aber die grundsätzliche Frage, inwiefern die Burka gegen das Prinzip der Gleichberechtigung verstösst. Auch diesbezüglich unterstellen wir, dass die verschwindend geringe Zahl von Burka-Trägerinnen von Männern gezwungen werden, sich so zu kleiden. Der Mann steckt seine Frau ins Gefängnis, nimmt ihr die Identität und versteckt sie vor der (Männer-)Welt, glauben viele. Was aber machen wir mit der Tatsache, dass viele Burka-Trägerinnen sich freiwillig für diese Ganzkörperverhüllung entscheiden? Wir ignorieren diese Entscheidung oder nehmen sie nicht ernst. Das Argument der Freiwilligkeit wird mit dem ominösen Konstrukt des kulturell-sozial-psychischen Zwanges, welche auf diese Frauen ausgeübt werde, weggewischt. Es kann unmöglich einen freien Willen unter der Burka geben, und wenn es diesen dann doch gäbe, hätte er sich gesellschaftlichen Wertvorstellungen unterzuordnen.

Schon ist die Forderung nach einem Burka-Verbot auf dem Tisch. Eine Initiative will das Burka-Verbot in der Verfassung festschreiben. Neben den Schwergewichten der persönlichen Freiheit und der Religionsfreiheit soll auch das Burka-Verbot konstitutionell verankert werden. Die Leitlinie unseres Zusammenlebens wird zu einem kontradiktorischen Flickwerk. Es besteht kein Zweifel, dass die Schweizer StimmbürgerInnen diese Initiative annehmen würden. Nur ein Verbot auf Gesetzesstufe könnte diese Verwässerung unserer Verfassung verhindern. Das Verbot wird kommen, so oder so, obwohl sich viele bewusst sind, dass es sich um «Symbolpolitik im besten Sinne» (Eric Gujer, NZZ) handelt. Dass aus dem ganzen tagespolitischen Gekreische sofort Gesetze hervorgehen, ist bedauernswert. Da es sich hier um ein symbolisches Gesetz handelt, ist eine konsequente Durchsetzung unwahrscheinlich. Symbolpolitik, Zeichen setzen! Übermorgen fragen wir uns dann, ob eine Burka als Fasnachts-Verkleidung zulässig ist, und dann weitergehend, ob Maskierungen an der Fasnacht oder im Wintersturm mit Kapuze und Schal zulässig sind. Auf die Party folgt unweigerlich das Kopfweh.

Die Party der Islamophobie, die der Burka-Debatte zugrunde liegt, wird neben der SVP auch von christ-demokratischen Kreisen gefeiert. Die Christ-Demokraten erhoffen sich wieder Zuwachs, und schon posaunt der Präsident der CVP, Gerhard Pfister: "Entweder wird Europa wieder christdemokratisch, oder Europa wird scheitern." Er ruft die totale Überlegenheit der christlichen Werte aus und gibt den Propheten des Untergangs. Das nimmt schon fast biblische Dimensionen an. Die katholische Kirche, welche hinter der CVP steht, hat Europa tatsächlich massgeblich geprägt. Wir erinnern uns an Hexenverbrennungen, Inquisition, Verfolgung und Ermordung von Wissenschaftlern, Duldung des Holocaust, systematischen sexuellen Missbrauch von Kindern, um nur einige zu nennen. Auch der heutige Katholizismus ist nicht in der Position, sich als Hüter von Moral und Werten aufzuspielen. Die katholische Kirche verschliesst sich noch immer allgemein akzeptierten westlichen Werten. Priester dürfen noch immer nicht heiraten. Abtreibung und Verhütung wird verteufelt. Frauen dürfen kein Priesteramt ausüben. Mitten unter uns existiert eine mittelalterlich geprägte Parallelgesellschaft, die sich um Werte wie Gleichstellung und Persönlichkeitsrechte foutiert. Umso mehr erstaunt es, dass hier niemand die Keule des Gesetzes schwingt. Im Fall der katholischen Kirche scheinen wir zu tolerieren, dass unsere Werte mit Füssen getreten werden. Wahrscheinlich leben wir schon so lange mit dieser Absurdität an unserer Seite, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen.

Den Islam nehmen wir wahr, er hat ein Gesicht oder eben einen Schleier. Die Burka empört oder befremdet. Tatsächlich passt sie nicht in unsere offene Gesellschaft. Sie passt nicht an Schulen, sie passt nicht an den Arbeitsplatz, sie passt nicht vor Gericht. Sie passt eigentlich nirgendwohin, wo die Identität des Menschen im Vordergrund steht. Ein Burkaverbot in den eigenen vier Wänden wäre absurd. Ein Verbot auf der Strasse wird umgangen oder in Kauf genommen, weil ein reicher Scheich die Busse bezahlt. Wenn wir sinnlose Symbolpolitik in Gesetze fassen, dann soll es halt so sein. Feststeht, dass die Burka in der Schweiz nie ein Massenphänomen sein wird. Die Burka-Debatte ist viel Lärm um Nichts. Wie üblich wird sie von Trittbrettfahrern der Politik missbraucht, um Ängste in der Bevölkerung zu bewirtschaften. Dabei sollten Herren wie Gerhard Pfister aber zuerst vor der eigenen Haustüre kehren. Und die Posaunen des Untergangs sollte er besser einpacken.




Tanz­ver­bot im Aar­gau — eine Tra­gi­ko­mö­die in fünf Akten

Prolog

introDer Aargau tut sich unglaublich schwer mit gewissen Dingen, so zum Beispiel mit der Abschaffung des Tanzverbotes, welches es - wie alle immer gesagt haben - gar nicht mehr gibt. Es ging eigentlich nur um die Normalisierung der Öffnungszeiten von Gastro- und Tanzbetrieben an sogenannt hohen religiösen Feiertagen. Die Leute könnten genau an jenen Wochenenden wie Pfingsten zwei Stunden länger sitzen oder tanzen, an denen sie verdientermassen frei haben. Das ist eine Bagatelle, möchte man meinen. Nicht für den Aargau.

Dieser Kanton inszeniert dazu ein wahrhaftes Bühnenspektakel. Eine Initiative wird lanciert. Parteien machen Vorstösse dazu im Grossrat. Die Gegenpartei verhindert den Vorstoss, weil sie dem politischen Gegner ein Bein stellen will, und bringt ihrerseits einen Gegenvorschlag. Abgesehen von Nuancen verfolgen fast alle dasselbe Ziel. Nur Trittbrettfahrer aus christlichen Parteien nutzen die Initiative, um eine Wertediskussion zu entfachen.

Beginnen wir von vorne.

Akt 1: Eine Partei initiert

initiertDie Piratenpartei Aargau lanciert die Initiative "Weg mit dem Tanzverbot". Gewiss verspricht die Bezeichnung der Initiative mehr, als sie eigentlich erreichen will. Tatsächlich ist der Zankapfel aber ein Überbleibsel des ehemaligen Tanzverbotes. Die Initative will den Paragraf 4 Absatz 3 des Gastgewerbegesetzes streichen. Das wird im Initiativ-Text klipp und klar gesagt. Dieser Paragraf lautet:

"An Karfreitag, Ostersonntag, Pfingstsonntag, am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag, am Weihnachtstag sowie am jeweils darauf folgenden Tag sind die Gastwirtschaftsbetriebe um 00.15 Uhr zu schliessen."

Eine Annahme der Initiative hätte zur Folge, dass dieser Paragraf gestrichen wird und die Gastro-Öffnungszeiten an diesen 10 (5 x 2) Tagen normalisiert werden, wie es in den Kantonen Basel, Bern und Zürich schon lange der Fall ist. Das ist nichts Weltbewegendes, eine simple Korrektur, eine Anpassung an die Moderne, eine kleine Erleichterung für die Gesellschaft. Die Initianten beginnen die 3'000 erforderlichen Unterschriften zu sammlen und müssen jedem Unterschriftswilligen erklären, worauf die Initiative wirklich abzielt. Unsere Stimmbürger und Stimmbürgerinnen sind kritisch und geben keine Unterschrift, ohne genau zu wissen, was sie unterschreiben. Später würde im Grossrat behauptet, die Initianten hätten die Unterschreibenden in die Irre geführt, ja sogar bestochen. Dieser an den Haaren herbeigezogene Vorwurf unsterstreicht, dass gewissen Politikern der Kontakt zum Volk und das Vertrauen in dasselbige schon lange abhanden gekommen ist. Die Überzeugungsarbeit, welche die Initianten derweil auf der Strasse leisten, ist gross. Doch die Unterschriftensammel-Aktion kommt zu einem jähen Ende, denn jetzt betritt der Grossrat die Bühne. Vorhang auf für unser kantonales Parlament!

Akt 2: Der Grossrat sitzt

sitztDie JUSO bringt einen mit der Initiative fast deckungsgleichen Vorstoss in den Grossen Rat des Kantons Aargau. Drei Monate nimmt sich der Grossrat Zeit, um diesen Vorstoss zu behandeln. Die Initianten pausieren die Unterschriftensammel-Aktion in dieser Zeitspanne. Sie haben ein Jahr Zeit, 3'000 Unterschriften zu sammeln. Drei Monate davon sollten sie nun verlieren. Sie hoffen natürlich auf eine Annahme der Motion und wollen sich unnötige Arbeit ersparen. Nach drei Monaten wird die Motion der JUSO abgelehnt, da die SVP, welche die Mehrheit im Grossrat stellt, dem politischen Gegner keine Geschenke macht. Die SVP ihrerseits arbeitet einen Gegenvorschlag aus. Sie möchte, dass verlängerte Öffnungszeiten an hohen religiösen Feiertagen von den einzelnen Gemeinden bewilligt werden. Die christliche Fraktion beginnt in der Zwischenzeit, aus dieser simplen Frage eine Wertediskussion um die "24-Stunden-Spassgesellschaft" und um die Entschleunigung der Gesellschaft zu entfachen. Sie fordern Respekt vor kirchlichen Feiertagen. Was dies mit dem eigentlichen Anliegen zu tun hat, werden sie nie richtig erklären können. Wahrscheinlich ist es einfach das Lamento einer dünnhäutigen Fraktion, welche in den letzten Jahrzehnten konstant verloren hat. Die Kirche hat Mitglieder verloren, die CVP befindet sich im steten Niedergang, die EVP und die EDU fristen ein Schattendasein. Diese heiligen Krieger stehen nun gemeinsam auf, um gegen die - unvermeidliche - Entchristianisierung der Gesellschaft anzutreten, und das ausgerechnet bei einem Anliegen, welches häufig als Bagatelle abgetan wurde. Jetzt aber geht es plötzlich um die Kultur des Abendlandes! Da staunen auch die Initianten, die ursprünglich nur ein kleines Ärgernis beseitigen wollten, nicht schlecht. Nachdem der Vorstoss der JUSO abgelehnt wurde, sammeln die Initianten weiter und reichen nach einem Jahr ungefähr 3'800 Unterschriften ein. Davon sind 3'279 gültig und die Initiative ist gültig zustande gekommen. Der Regierungsrat hat nun zwei - ZWEI - Jahre Zeit, um diese Initiative zu behandeln und gegebenenfalls einen Gegenvorschlag auszuarbeiten. Doch auch unser Regierungsrat ist gut für Überraschungen. Vorhang auf!

Akt 3: Der Regierungsrat denkt

thinkDer Regierungsrat besorgt Staatsaufgaben. Das will überlegt sein. Deshalb denkt der Regierungsrat. Er denkt, er denkt Monate, ein halbes Jahr und dann denkt er, dass er keine Zeit habe. Er gelangt mit der Bitte an die Initianten, ihm mehr Zeit einzuräumen für die Ausarbeitung eines Gegenvorschlages. Wir müssen uns jetzt kurz wieder vergegenwärtigen, worum es eigentlich geht. Es geht um nichts, um eine Bagatelle, wie alle immer betont haben. Doch der Regierungsrat kann diese Mikro-Initiative nicht in zwei Jahren behandeln. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Initianten, welche bloss ein Jahr (minus drei Monate) Zeit hatten, um die notwendige Anzahl Unterschriften zu sammeln, lehnen die Bitte der Regierung ab. Dann geht alles plötzlich sehr schnell. Den Initianten wird die Schuld für das Nichtzustandekommens eines Gegenvorschlages in die Schuhe geschoben. Die Abstimmung über die Initiative wird stante pede auf den nächsten nationalen Abstimmungstermin angesetzt. Die kleine kantonale Initiative muss sich neben vier schwergewichtigen nationalen Abstimmungen behaupten. Das Abstimmungsbüchlein der Regierung wiederholt auf drei Seiten: Die Initianten sind schuld. Ablehnen. Auf der letzten Seite dürfen die Initanten wenige Worte zu Gunsten der Initiative verlieren. Wahre Demokratie? Der geneigte Leser vermisst ferner eine Erklärung des Regierungsrates, warum er innerhalb von zwei Jahren keinen Gegenvorschlag ausarbeiten konnte. Die Ablehnung durch Grossrat und Regierungsrat, die Anschuldigungen an die Adresse der Initianten sind schlechteste Voraussetzungen für diese Initiative.

Akt 4: Das Volk folgt

folgt48.2 % Ja zu 51.8 % Nein. Angesichts der völlig verfehlten Wertediskussion und der Ablehnung durch die Gremien können die Initianten trotzdem von einem Achtungserfolg sprechen. Ist das Drama zu Ende? Nein, denn jetzt folgt der Schildbürger-Streich.

 

 

Akt 5: Der Regierungsrat setzt um

setztumDer Regierungsrat setzt die Motion der SVP um. Auch der Grossrat wird Ja zu liberalisierten Öffnungszeiten auf kommunaler Bewilligungsbasis sagen. Jetzt steht ja die SVP dahinter. Die SVP, die SP, die Grünen, die FDP, die Grünliberalen und die BDP werden JA sagen. Die EVP, die CVP und die EDU werden einmal mehr das Nachsehen haben. Vielleicht hat dann noch jemand Lust, das Referendum zu ergreifen? Es wäre eine würzige Pointe in dieser aargauischen Tragikomödie.

Der Vorhang fällt. Wir dürfen applaudieren. Wirklich?