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Die Ver­schleie­rung der Werte

Die Burka, ein orientalischer Ganzkörper-Schleier, erregt im Moment die Gemüter. Die einen sehen darin einen Angriff auf die Kultur und die Werte des «Abendlandes». «Abendland» ist übrigens ein perfider Kampfbegriff, der seinen Gegner bereits in sich trägt: das Morgenland. Andere erkennen in der Burka die Unterdrückung der Frau, ein Anachronismus im Kampf für Gleichberechtigung. Gleichstellung von Mann und Frau ist ein unverhandelbarer Wert, den wir bereits mit unserer Muttermilch aufgesogen und verinnerlicht zu haben scheinen, wobei die Muttermilch einiger Generationen noch weniger Freiheit enthielt. Die Debatte um die Burka wird grundsätzlich unter Ausschluss der Betroffenen geführt. Wir unterstellen, dass sie in ihrem System gefangen sind und deshalb nicht objektiv urteilen können. Die Beurteilung übernehmen wir aus der Warte unserer scheinbaren moralischen Überlegenheit.

Bei genauerer Betrachtung steht diese Moral jedoch auf schwachen Beinen. Der Weg zur Gleichberechtigung von Mann und Frau war steinig und holprig und wäre fast an der Trutzburg des Säntis zum Stillstand gekommen. Die Appenzell-Innerrhoder Männer mussten 1990! vom Bundesgericht gezwungen werden, den Frauen das Stimmrecht zuzugestehen, nachdem 19 Jahre zuvor das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene beschlossen wurde. In Sachen Lohngleichheit schwächelt die Gleichstellung der Geschlechter heute noch. Der unverhandelbare Wert der Gleichberechtigung ist im Gegensatz zu anderen Werten jung und noch nicht vollständig verfestigt in den Köpfen der SchweizerInnen. Nun stellt sich aber die grundsätzliche Frage, inwiefern die Burka gegen das Prinzip der Gleichberechtigung verstösst. Auch diesbezüglich unterstellen wir, dass die verschwindend geringe Zahl von Burka-Trägerinnen von Männern gezwungen werden, sich so zu kleiden. Der Mann steckt seine Frau ins Gefängnis, nimmt ihr die Identität und versteckt sie vor der (Männer-)Welt, glauben viele. Was aber machen wir mit der Tatsache, dass viele Burka-Trägerinnen sich freiwillig für diese Ganzkörperverhüllung entscheiden? Wir ignorieren diese Entscheidung oder nehmen sie nicht ernst. Das Argument der Freiwilligkeit wird mit dem ominösen Konstrukt des kulturell-sozial-psychischen Zwanges, welche auf diese Frauen ausgeübt werde, weggewischt. Es kann unmöglich einen freien Willen unter der Burka geben, und wenn es diesen dann doch gäbe, hätte er sich gesellschaftlichen Wertvorstellungen unterzuordnen.

Schon ist die Forderung nach einem Burka-Verbot auf dem Tisch. Eine Initiative will das Burka-Verbot in der Verfassung festschreiben. Neben den Schwergewichten der persönlichen Freiheit und der Religionsfreiheit soll auch das Burka-Verbot konstitutionell verankert werden. Die Leitlinie unseres Zusammenlebens wird zu einem kontradiktorischen Flickwerk. Es besteht kein Zweifel, dass die Schweizer StimmbürgerInnen diese Initiative annehmen würden. Nur ein Verbot auf Gesetzesstufe könnte diese Verwässerung unserer Verfassung verhindern. Das Verbot wird kommen, so oder so, obwohl sich viele bewusst sind, dass es sich um «Symbolpolitik im besten Sinne» (Eric Gujer, NZZ) handelt. Dass aus dem ganzen tagespolitischen Gekreische sofort Gesetze hervorgehen, ist bedauernswert. Da es sich hier um ein symbolisches Gesetz handelt, ist eine konsequente Durchsetzung unwahrscheinlich. Symbolpolitik, Zeichen setzen! Übermorgen fragen wir uns dann, ob eine Burka als Fasnachts-Verkleidung zulässig ist, und dann weitergehend, ob Maskierungen an der Fasnacht oder im Wintersturm mit Kapuze und Schal zulässig sind. Auf die Party folgt unweigerlich das Kopfweh.

Die Party der Islamophobie, die der Burka-Debatte zugrunde liegt, wird neben der SVP auch von christ-demokratischen Kreisen gefeiert. Die Christ-Demokraten erhoffen sich wieder Zuwachs, und schon posaunt der Präsident der CVP, Gerhard Pfister: "Entweder wird Europa wieder christdemokratisch, oder Europa wird scheitern." Er ruft die totale Überlegenheit der christlichen Werte aus und gibt den Propheten des Untergangs. Das nimmt schon fast biblische Dimensionen an. Die katholische Kirche, welche hinter der CVP steht, hat Europa tatsächlich massgeblich geprägt. Wir erinnern uns an Hexenverbrennungen, Inquisition, Verfolgung und Ermordung von Wissenschaftlern, Duldung des Holocaust, systematischen sexuellen Missbrauch von Kindern, um nur einige zu nennen. Auch der heutige Katholizismus ist nicht in der Position, sich als Hüter von Moral und Werten aufzuspielen. Die katholische Kirche verschliesst sich noch immer allgemein akzeptierten westlichen Werten. Priester dürfen noch immer nicht heiraten. Abtreibung und Verhütung wird verteufelt. Frauen dürfen kein Priesteramt ausüben. Mitten unter uns existiert eine mittelalterlich geprägte Parallelgesellschaft, die sich um Werte wie Gleichstellung und Persönlichkeitsrechte foutiert. Umso mehr erstaunt es, dass hier niemand die Keule des Gesetzes schwingt. Im Fall der katholischen Kirche scheinen wir zu tolerieren, dass unsere Werte mit Füssen getreten werden. Wahrscheinlich leben wir schon so lange mit dieser Absurdität an unserer Seite, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen.

Den Islam nehmen wir wahr, er hat ein Gesicht oder eben einen Schleier. Die Burka empört oder befremdet. Tatsächlich passt sie nicht in unsere offene Gesellschaft. Sie passt nicht an Schulen, sie passt nicht an den Arbeitsplatz, sie passt nicht vor Gericht. Sie passt eigentlich nirgendwohin, wo die Identität des Menschen im Vordergrund steht. Ein Burkaverbot in den eigenen vier Wänden wäre absurd. Ein Verbot auf der Strasse wird umgangen oder in Kauf genommen, weil ein reicher Scheich die Busse bezahlt. Wenn wir sinnlose Symbolpolitik in Gesetze fassen, dann soll es halt so sein. Feststeht, dass die Burka in der Schweiz nie ein Massenphänomen sein wird. Die Burka-Debatte ist viel Lärm um Nichts. Wie üblich wird sie von Trittbrettfahrern der Politik missbraucht, um Ängste in der Bevölkerung zu bewirtschaften. Dabei sollten Herren wie Gerhard Pfister aber zuerst vor der eigenen Haustüre kehren. Und die Posaunen des Untergangs sollte er besser einpacken.




Kopf­tuch-Ver­bo­te an Schulen

Ein 14-jähriges Mädchen, von den Medien Leyla genannt, wird von der Schule Thun verwiesen, weil es entschlossen hat, ein Kopftuch gemäss seiner religiösen und kulturellen Überzeugung zu tragen. Der Reflex, hier eine Kultur- und Integrations-Debatte loszutreten, ist fehlgeleitet und falsch.

Die Verfassung garantiert uns allen nach Art. 10 BV persönliche Freiheit und das Recht auf Selbstentfaltung und -verwirklichung. Dies umfasst unter anderem das Recht, dass jeder selber über seine Kleidung und sein Outfit entscheiden kann. Dieses Grundrecht gilt natürlich nicht uneingeschränkt. Sobald sexuelle Aspekte das Äussere eines Menschen dominieren, kann das Recht auf persönliche Freiheit gewissen Einschränkungen unterliegen.

Wir sprechen hier nicht über eine Burka. Es geht um ein Kopftuch, welches das Gesicht des Mädchens nicht verdeckt. Burkas an Schulen sind dagegen nicht zu tolerieren, nur schon weil die Identität des Menschen nicht mehr erkennbar ist. Aber es geht in diesem Fall nicht darum, über Burkaverbote zu diskutieren. Ein Kopftuch ist der Stein des Anstosses.

Wir könnten vergleichsweise über Verbote von T-Shirts mit Aufschrift, über Verbote von Mützen, über Verbote von zerissenen Jeans, über Verbote von Piercings und Tattoos debattieren. Dann wird uns allen schnell klar, dass ein Verbot eines Kopftuches eine unverhältnismässige Einschränkung unseres eigenen Rechtes, die Erscheinung zu bestimmen, bedeutet. Hier liegt des Pudels Kern begraben.

Das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, ist ein unverhältnismässiger Eingriff in die Selbstbestimmung dieser Jugendlichen. Darüber hinaus ist ein ein Eingriff in unsere verfassungsmässigen Rechte. Kopftuchverbote an Schulen sind mit unserer Verfassung nicht vereinbar. Das Bundesgericht wird sich dieser Meinung hoffentlich anschliessen.